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Jesper

3 Wochen vor dem ET:

Die Schwangerschaft war unbeschwert und völlig entspannt. Voller Vorfreude blickte ich auf die nahende Geburt.

Drei Wochen vor der Geburt wurde es nochmal richtig turbulent bei uns: Unsere Tochter Ava musste als K1 in Quarantäne, Erkältungssymptome meinerseits, der Infekt rafft mich ganz schön dahin, Coronatest, Bangen, Entwarnung, Test negativ, Tod unseres Katers, dann noch Magen-Darm-Infekt der Tochter.

Danach waren meine Kraftreserven ganz schön erschöpft und die Nerven lagen blank. In der Zeit habe ich jeden Tag mit dem Baby gesprochen, doch bitte noch zu warten.

Und das Baby wartete, es wartete bis ich wieder Kraft hatte und sogar meine letzten ToDos und Nice-to-Haves abgearbeitet hatte. Dann wurde ich ungeduldig und bat den Bauchbewohner, möglichst bald auszuziehen. Die Luft war gerade so schön rein …

In der Nacht von 39+6 auf 40+0:

Noch ganz zart und seicht, gleichzeitig deutlich werde ich von Wehen geweckt. Immer wieder falle ich in einen erholsamen Schlaf zurück. Ich ahnen, dass die Geburt nicht mehr allzu fern ist.

 

40+0

8.00 Uhr

Als ich mich im Bett aufsetze spüre ich das es in meiner Hose ein wenig nass wird. Es war wie ein Déjà-vu des ersten Geburtsstarts.

Damals hatte ich einen hohen Blasensprung, dann viele Stunden keine effektiven Wehen. Bangen und hoffen, ob die Geburt wie geplant im Geburtshaus statt finden konnte. Mit ziemlichen Zeitdruck im Nacken, konnte es schließlich das Rizinusöl richten und ich entging der Antibiose inklusive Geburt in der Klinik. Ich bekam schnell intensive Wehen und gute 2,5 Stunden später hielt ich mein erstes Kind in den Armen.

Dieses Mal wünschte ich mir, dass dieser Nervenkitzel und Zeitdruck mir erspart bleibt.

Dennoch hatte ich schon vorsichtshalber Indikatorpapier für den Fruchtwassertest zuhause und das Ergebnis war ganz zart blau. So richtig eindeutig fand ich es wieder nicht.

Ich bin neugierig und taste selbst nach meinem Muttermund. Ich fühle eine kleine Wulst, aus deren Mitte eine kleine pralle Blase steht. Für mich als Laie fühlt sich das nach einem leicht geöffneten Muttermund an.

Ich schreibe Lena V. eine SMS. Wir hatten bereits gestern Abend geschrieben, um einen Termin für die planmäßige Kontrolle am ET auszumachen.

Wenn nichts weiter passiert, wollen wir uns wie verabredet mittags im Geburtshaus treffen.

 

11.45 Uhr

Wir bringen unsere Tochter Ava zu unseren Freunden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie das nächste Mal als große Schwester wieder sehe. Es fühlt sich alles so sehr nach Fehlalarm an. Wehen weiterhin sehr sacht und seit dem Aufstehen kein weiterer wahrnehmbarer Fruchtwasserabgang mehr.

12.10 Uhr

Da wir so gut durchgekommen sind und direkt einen Parkplatz in Geburtshausnähe gefunden haben, sind wir noch vor der verabredeten Zeit am Geburtshaus. Mein Mann Gunnar und ich warten noch etwas im Auto. Während der Wartezeit habe ich zwei intensivere Wehen, die mich denken lassen, dass es vielleicht doch noch etwas werden könnte

 12.30 Uhr

Ich habe besonders viel Glück, denn nicht nur Lena, sondern auch Nina, die zur Einarbeitung im Geburtshaus ist, begrüßen uns ganz herzlich. So habe ich nicht nur eine, sondern gleich zwei wundervolle Frauen und die doppeltgeballte Hebammenkompetenz an meiner Seite. Eine 2:1 Betreuung absoluter Luxus.

Erst einmal schreiben wir ein CTG. Während der Bauchbewohner tobt und Schluckauf hat, schreibt das CTG alle 2-3 min „Wehenhügel“. Mal große, mal kleine, mal breite, mal dünne. Die Wehentätigkeit ist noch sehr unkoordiniert. Genauso fühlt es sich auch an und weiterhin bin ich nicht richtig überzeugt von einer heutigen Geburt.

Ich erzähle Lena und Nina von meinem Tastbefund zuhause.

Daraufhin untersucht Lena mich auch nochmal. Kleine Wulst und gute 4cm, lautet das Ergebnis! Ich bin etwas perplex und freue mich riesig. Wahnsinn, so ein großes Stück ist schon geschafft und das mit so einer Leichtigkeit. „Mein Körper, du bist der Hammer!“

Den Untersuchungshandschuh drückt sie nochmal auf ein Stück Indikatorpapier auch hier zeigt sich eine leichte Blaufärbung. Doch Tröpfeln tut es weiterhin nicht mehr.

Also scheine ich doch schon mitten drin zu sein, in unserer zweiten Geburtsreise. Dieser Gedanke fühlt sich noch total surreal und verrückt an.

Ein ABER schleicht in meinen Kopf: Aber die Kontraktionen reichen doch bestimmt noch nicht aus, zu schwach und viel zu unkoordiniert. Aus meiner ersten Geburtserfahrung heraus fehlt mir gerade das tiefe Vertrauen in meinen Körper. Das Vertrauen und die Sicherheit, dass wir es dieses Mal vielleicht ganz ohne Rizinusöl schaffen können.

Mein wundervolles Hebammenteam macht mir Mut. Ein Einlauf, ein homöopathisches Mittel und ein Spaziergang sollen die Wellen intensivieren.

13.00 Uhr

Gunnar bekommt eine Nachricht von unseren Freunden, dass wir die Koffer vertauscht haben. Der Geburtshauskoffer ist dort und wir haben Avas Koffer hier. Also fährt er die 30 Minuten nochmal zurück, um diskret den Kofferrücktausch vorzunehmen.

Währenddessen machen wir im Geburtshaus den Einlauf und ich mache es mir dann auf dem Gebärbett gemütlich. Lavendelduft erfüllt den Raum, Geborgenheit macht sich breit; ich döse nochmal etwas vor mich hin und sammele Kraft für das was kommen mag.

14.15 Uhr

Gunnar ist zurück. Der Koffertausch war erfolgreich. Die kurze erneute Kehrtwende auch, nach dem er noch feststellte, dass sein Portemonnaie noch in dem bereits getauschten Koffer war.

Wir brechen auf zum Sparziergang.

Ich habe heute noch nicht viel gegessen, also machen wir noch einen Abstecher zum Thai-Imbiss. Meine Wahl fällt ganz klar auf eine scharfe Tom Kha Gai Suppe.

Frisch gestärkt schlendern wir durch die Straßen. Es ist ein Novembertag wie er im Buche steht: grau, nebelig, Nieselregen, ein kalter Wind pfeift uns um die Ohren.

Die Kontraktionen werden beim Gehen intensiver. Ich muss währenddessen langsamer gehen oder ganz kurz stehen bleiben. Weiterhin alle 2-3 min.

Wir sind nass und durchgefroren und beschließen uns auf den Rückweg zu machen.

 

16.00 Uhr

Ich genieße das wohlig, warme Wasser in der Wanne und entspanne.

Ich liege auf dem Rücken und spüre, dass die Wehenabstände im warmen Wasser wieder viel größer werden. An der Intensität ändert sich erst einmal nichts.

Lena zückt die nächste homöopathische Wehengeheimwaffe. Nach jeder Wehe darf ich mir eine Tablette auf der Zunge zergehen lassen.

Lena schlägt vor sonst nochmal eine aufrechtere Position in der Wanne zu wählen oder nochmal etwas im Geburtszimmer auf und abzulaufen, um die Wellen weiter anzukurbeln.

Ich bleibe noch einen Moment auf dem Rücken liegen. Einfach, weil es sich gerade so gut anfühlt. Dann wähle ich auch eine aufrechte Position und hocke mich in die Wanne.

Ich habe mich vor allem mental auf die Geburt vorbereitet. Viel in der Schwangerschaft meditiert, die Geburt visualisiert, mir mutmachende Sätze zurecht gelegt und an das angeknüpft, was mir bei der ersten Geburt schon gut getan hat. In der Wanne konnte ich sehr gut loslassen und mich in einen tiefen entspannten Zustand sinken lassen.

Die Wellen nehmen teils so sanft in ihrer Kraft zu, dass ich es gar nicht richtig wahrnehme.

Nach jeder Wehe füttert mich Gunnar mit einer Tablette, lässt immer wieder warmes Wasser ein, übergießt hin und wieder meinen Rücken mit warmen Wasser und reicht mir Getränke an.

Mir war es sehr wichtig viel Freiraum und Ruhe während der Geburt zu haben, weil ich mich so am besten fallen lassen kann.

Lena und Nina schauen sporadisch nach uns und halten sich ansonsten völlig im Hintergrund. Wir wissen, dass wir sie jederzeit holen können und das reicht uns völlig aus.

In dieser Schwangerschaft bin ich auf ein wundervolles Bild gestoßen. Wehen werden durch das Liebeshormon Oxytocin ausgelöst, das gleiche Hormon, dass wir z.B. ausschütten bei zärtlichen Berührungen und Küssen. Dort wurden Wehen als eine Liebesumarmung der kontrahierenden Gebärmutter um das ungeborene Kind beschrieben. Genauso stelle ich es mir jedes Mal vor. Unser Kind wird in einer Umarmung der Liebe gehalten und immer ein Stückchen weiter in Richtung Welt getragen.

Beim Einatmen stelle ich mir vor wie die Luft in mir das Kind gegen den Muttermund drückt und beim Ausatmen wie dieser weit und weich wird. So arbeite ich mich durch jede Kontraktion. Ich empfinde sie als starken Druck und als leichtes Vibrieren im Becken, aber nicht wirklich als Schmerz.

Die Intensität der Wehe nimmt weiter sehr sacht zu. Die Pausen empfinde ich immer noch als sehr lang. Das irritiert mich immer noch und manchmal erwische ich mich dabei zu denken: „So langsam müsste jetzt mal wieder eine kommen!“

Mir stehen hier genau zwei Dinge im Weg und zwar zum einen meinen Erfahrungen aus der ersten Geburt. Die Sicherheit, dass mein Körper Geburtswehen wirklich komplett alleine kann fehlt mir, das Gefühl in den Wehen war dieses mal auch anders. Insgesamt fehlt mir dieser "Point-of-no-Return wie ich ihn bei Avas Geburt plötzlich empfand. Immer noch fühlte es sich so an, als könnten diese Wehen einfach wieder verschwinden. Zum anderen war es meine Erwartung, die sich eher unwissentlich manifestiert hatte. Ich habe mich viel darauf vorbereitet, dass diese zweite Geburt intensiv und sehr schnell sein könnte. Doch das war sie jetzt einfach nicht ... sie war wunderbar sanft, ruhig und friedlich.

Jetzt erkannte ich was mir im Weg stand und konnte endlich dieses bedingungslose Vertrauen in meinen Körper, in mich selbst und in das ungeborene Kind fassen. Denn die Arbeit, die wir hier gerade leisten ist überwältigend. Auch wenn ich es bis dato als irgendwie "zu leicht" oder nicht intensiv genug empfand. Statt zu denken: „Jetzt müsste aber mal wieder eine Wehe kommen“, denke ich einfach nur noch: „Hab Vertrauen!“. Gleichzeitig wächst in mir die Sicherheit, dass wir heute nicht den Rizinusjoker brauchen.

18.30 Uhr

Ich gehe zur Toilette. Als ich davon aufstehe platzt meine Fruchtblase ganz. Klares Fruchtwasser fließt. Ein Meilenstein ist für mich geschafft, jetzt ist er klar da, der Point-of-no-Return und die Zuversicht wächst weiter, dass wir noch heute Geburtstag feiern dürfen.

Gunnar informiert kurz Lena und Nina, die sich sehr mit uns freuen.

Zurück in der Wanne erreichen die Wehen ihren intensivsten Punkt. Die Wehenspitzen empfinde ich jetzt als sehr unangenehm. Das ist allerdings nur ein kurzer überschaubarer Moment. Die Pausen werden kürzer sind aber immer noch wunderbar lang, um gut Kraft schöpfen zu können.

Ich denke das, dass Finale nicht mehr in allzu langer Ferne liegen könnte.

18.55 Uhr

Plötzlich bricht wieder, wie vor 2,5 Jahren, diese Urgewalt über mich herein. Unkontrollierbar, stark und überwältigend – die erste Presswehe. Dieses Mal bin ich nicht so überfordert wie bei meiner ersten Geburt, denn genauso hat es sich auch angefühlt.

Mit dem ersten Mitschieben, entfährt mir noch ein abgedrücktes: „Ich muss pressen!“ und mein Mann springt vom Stuhl, um Lena und Nina Bescheid zu geben. Die beiden hatten mich schon gehört und machten sich geburtsbereit.

Ich lege meine Hand an meine Vulva. Die zweite Presswehe überkommt mich, ich MUSS kräftig mitschieben und schon spüre ich wie der Kopf die Vagina nahezu heruntergerauscht kommt. Wenige Zentimeter vor dem Ausgang kommt er zum Stehen. Ich weiß, dass ich jetzt das Tempo rausnehmen sollte, um meinem Ziel, möglichst heile zu bleiben, nachkommen zu können.

Die nächste Presswehe durchrüttelt mich. Irgendwie versuche ich nur ein kleines bisschen mitzuschieben. Nicht aktiv Schieben ist für mich völlig unmöglich. Es gelingt mir zusammen mit etwas Gegendruck durch meine Hand den Kopf kurz vor dem Austreten zu bremsen. Da ist er der „Ring of Fire“, das Brennen kurz vor der Kopfgeburt.

Die vierte Presswehe ergreift meinen Körper. Ich versuche zu veratmen. Klappt nicht, ich MUSS zumindest ein bisschen mitschieben. Mit meiner Hand versuche ich wieder diese enorme Kraft hinter den Wehen zu bremsen. Der Kopf ist geboren. Das was jetzt noch kommt sollte ein Leichtes sein.

Noch völlig vertraut vom ersten Mal, kommt jetzt das Auge des Orkans. Plötzlich wird es völlig still im Körper. Dort wo gerade noch der laute, donnernde Presswehensturm getobt hat, ist jetzt alles ganz still, mucksmäuschenstill. Fast unheimlich still. Es kommt ein Moment des Wartens und der Spannung …

19.03 Uhr

Doch mein Körper möchte wieder nicht lange warten. Die finale Presswelle kommt angerollt und mit einem Rutsch gleitet der Körper ins Wasser. Absolut überwältigend, es ist geschafft, ich habe unser zweites Kind geboren und so entspannt und leicht.

Das Wasser ist etwas blutig und trüb, sodass ich gar nicht sehen kann, wo unser Sohn ist. Etwas hektisch taste ich nach ihm und finde ihn unmittelbar. Bevor ich sein Gesicht aus dem Wasser heben kann, muss ihn Lena noch etwas aus der Nabelschnur entwirren.

Er ist noch blau und etwas knautschig. Er zieht ein paar Grimassen, bevor er seinen aller ersten Atemzug auf dieser Welt macht. Solch ein Moment voller Magie! Er braucht etwas, um hier anzukommen und zu verstehen, dass er gerade in diese Welt gerutscht ist.

Dann kann ich ihn hochnehmen an meine Brust drücken und ihn Willkommen heißen. Willkommen, in dieser schönen, verrückten Welt. Die mir zurzeit etwas mehr verrückt erscheint. So schön, dass du geboren bist, kleiner Bruder Jesper!

19.20 Uhr

Wir ziehen auf das Gebärbett um und kuscheln uns richtig schön ein. Realisieren langsam alles, bestaunen einander und lernen uns langsam kennen.

Lena und Nina lassen uns erst einmal zu dritt allein.

Es dauert nicht allzu lange und die ersten Nachwehen überkommen mich. Diesen Teil würde ich als einzigen schmerzhaften Teil der Geburt beschreiben. Plötzlich und unvorbereitet treffen sie mich mit voller Wucht. Ich finde so in keinen entspannten Zustand zurück und außerdem möchte ich doch einfach mein Baby ganz und gar genießen.

Recht schnell sucht Jesper nach meiner Brust und stillt direkt los. Durch das Stillen habe ich kaum noch Pausen zwischen den Nachwehen, auch finde ich die Position im Liegen eigentlich sehr unangenehm. Doch möchte ich ihn auch nicht beim Trinken stören.

Sobald die Nabelschnur auspulsiert ist nabeln wir ab. Gunnar darf wieder die die Nabelschnur durchtrennen.

 

Kurz nach 20 Uhr

Ich versuche mit den Nachwehen die Plazenta rauszuschieben. Irgendwann gelingt es und sie rutscht weich und warm aus mir heraus. Mir entfährt ein: „Endlich ist das Ding raus!“

Dabei war das Ding eine sehr schöne kleine, runde und dicke Plazenta.

Obwohl Jesper final doch recht schnell durch mich hindurch auf die Welt gerauscht ist trage ich nur leichte Abschürfungen davon. Ich freue mich riesig, denn letztes Mal haben wir noch einen Abstecher in die Klinik zum Nähen gemacht. Ich bin mehr als erleichtert, dass mir das jetzt erspart bleibt. Das hatte ich mir sehr gewünscht.

Insgesamt war auch diese Geburt eine echte Traumgeburt. Ich blicke voller Stolz und mit tiefer Dankbarkeit darauf zurück. Es war eine entspannte Geburt, die voller Ruhe, Liebe, Geborgenheit und ganz aus eigener Kraft geschehen konnte.